David hatte einen Freund, den er bewunderte, sich manchmal aber auch wunderte über seine Exzentrizität. Er lernte Xeno kennen in einer Männergruppe. Es war jetzt Männer-Mode, sich zu emanzipieren. Welche Schicksale er da miterlebte, war nicht nur eindrücklich, sondern half die Grösse seiner eigenen Probleme zu relativieren. Am meisten lernte er aus Xenos Geschichten, der in verschiedenen Malen von seinem Schicksal berichtete.

Seine Scheidung bereute er nie, aber eine innere Leere breitete sich aus, sein grosser Wunsch nach Familie und Kindern war gescheitert. Er hätte sich nie vorstellen können, wie sehr ihn das aus der Bahn warf. Immer hatte er gemeint, er käme gut auch alleine zurecht. Weil er immer umgeben war von seiner Familie, merkte er nicht wie sehr er sich getäuscht hatte.

Er verfiel, ohne es recht zu merken, dem Alkohohl. Die wachsende Einsamkeit wollte er überwinden. Mit einer ersten Freundin erlebte er einen zweiten Frühling. Einmal wollte er bei Schneematsch bremsen, es fuhr ungehindert weiter, zwar gerade aus, aber langsam und stetig auf eine Hecke zu.

Endlich dort, war das Tempo so gering, dass lediglich ein Kotflügel eingedrückt wurde. Die Botschaft war klar: Er sei vom Weg abgekommen. Er liess es ausser Acht. Später machten sie einen Ausflug in den Jura. Eisregen war gefallen. Auf einem Waldweg geriet das Auto trotz langsamer Fahrt ins Rutschen. Zuerst nach links, dann quer, nach rechts, weder steuern, schon gar nicht bremsen, half irgendwie. Letztlich konnte er das Fahrzeug in die Schneemade hinein steuern. Beide stiegen aus, die Freundin brauchte eine Zigarette. Er montierte auf den Vorderrädern Snowgrip, ein Kreuzgestänge, das am Platz auf die Räder gespannt werden kann, und steuerte rückwärts auf den engen Weg.

Weil er zweifelte, ob das genüge, wollte er auch die Hinterräder bremsfähig machen. Also stieg er aus, nahm Ketten aus dem Kofferraum, da bewegte sich der Wagen wie ein Schlitten plötzlich Richtung Tal. Die Snowgrip waren nicht auf dem Eis aufgestanden.

Er ging dem Auto nach, fiel auf die Schnauze, erhob sich wieder, erreichte den Griff der Fahrertür, wurde nachgeschleppt, konnte die Tür öffnen, sich hinein zwängen, alles in slow motion. Sachte, sachte stand er auf die Bremse, sodass das Eisenkreuz auf dem Eis wieder Griff fasste. Weiter vorwärts war zu gefährlich, im Rückwärtsgang fuhr er wieder auf die Kuppe, wo er wenden konnte. Die Freundin stieg wieder ein. Die Botschaft war klar: Er befand sich auf Glatteis, liess sie aber ausser Acht.

Mit einer zweiten Freundin wurde es schwieriger. Nicht ihrethalben, sonder weil er Ereignisse, die ihm den Weg hätten weisen können, missachtete. So war er mit dieser Freundin im Winter mit dem Schlitten unterwegs. Die Bahn war vereist und gegen die Ränder hin geneigt. Er geriet in einen Graben, wo ihm ein Senkloch den Fuss abdrehte. Die Freundin rannte zum nächsten Haus, die Ambulanz wurde gerufen, der Freund im Spital eingeschient und wieder entlassen.

Es war eine merkwürdige Zeit danach, jede wieder erlangte Fähigkeit ein Ereignis: zum ersten Mal die Treppe runter, zum ersten Mal in den Garten, zum ersten Mal in die Stadt, wo er sich freute an der Hilfsbereitschaft der Leute. Die Botschaft war klar: Er musste wieder Gehen lernen. Er liess es ausser Acht.

Ein neuer Unfall ereignete sich. Beim Holz Fräsen kam ein Nachbar vorüber, sie begrüssten sich, der Freund stellte die Maschine ab, verabschiedete sich, wollte die Fräse verschieben, merkte den Nachlauf der Maschine nicht, verspürte ein Rupfen an der behandschuhten linken Hand, schaute hin und erschrak.

Handschuh zerfetzt, Blut, Versuch die Finger zu bewegen wegen dem Musizieren, aufatmen – es ging, dann dem Nachbarn nachrufen, ganz cool, er müsse ins Spital. Der wollte erst nicht recht begreifen, jedoch als er genauer hinschaute, erschrak er und rannte davon, sein Auto zu holen. Notfall, letztlich gerettet im weissen Spitalhemd und -Bett. Jetzt war die Coolness vorüber.

Ein Sturzbach von Wasser aus allen Poren, Tränen, Wimmern in seinem Elend. Die Botschaft war klar. Er sollte seinen Gefühlen Beachtung schenken. Wieder jedoch liess er es ausser Acht. Er war nicht bereit für die Botschaft. Bald hatte er eine andere Freundin, mit der er sich erstaunlich gut verstand. Zu gut, denn das war er nicht gewohnt. Als Kind hatte er erlebt, dass Liebe nicht selbstverständlich war, sondern verdient werden musste. Also konnte er sich Liebe ohne Disharmonie, Streit und Mühsal nicht vorstellen, oder umgekehrt Harmonie, Eintracht, Spannungslosigkeit, erkannte er nicht als Liebe.

Er fühlte sich noch immer allein, also musste er sich beweisen, dass er die Einsamkeit überwinden könne. Mit einer Weltreise von mindestens drei Monaten Dauer rund um die Erde wäre das am Besten zu prüfen. Er buchte Flüge und machte sich auf die Reise. Seine Freundin liess er im Ungewissen über die Zukunft.

Zuerst flog er nach New York, interessant aber trostlos allein. Dann nach Boston im Zug, interessant aber trostlos. Weiter nach Toronto leider im Flugzeug – im Zug wäre er nachts um drei in Buffalo angekommen und hätte für die Weiterfahrt 12 Stunden warten müssen. Trotz Besuch bei Bekannten und Freunden, kam keine Freude auf, eher sumpfte er ab.

Frisco, schön, interessant aber trostlos. Hawaii, Hongkong immer dieselbe Stimmung, er schaffte nicht, etwas zu geniessen. Guilin im Flug ein kleiner Lichtblick – es kam ihm vor wie eine unwirkliche Welt. Zwar hatte er die Zuckerhut-Landschaft schon gemalt gesehen, sich aber vorgestellt, so sei es übertrieben. Es war wirklich beeindruckend, beim Landen wäre er nicht verwundert gewesen, wenn urtümliche Drachen um die Fingerhüte geschwebt wären. Auf Bali der zweite Lichtblick, da er ein Musikinstrument bei sich hatte, wurde er von Balinesen in einem Restaurant sofort in eine Band integriert.

Gesang, Perkussion, Geige, Gitarre, Saxophon; so lange sie spielten, war Betrieb, bis spät in die Nacht hinein. Der Freund wurde umworben, er merkte es nicht. Die Balinesen machten ihn darauf aufmerksam, er wollte es nicht merken. Nachts war Highlight, tags Öde, Leere, obwohl er jeden Morgen eine Massage genoss am Strand bei Nr. 126. Er hätte eigentlich hier ohne Not leben könne, wenn er sein Geschäft verkauft hätte. Er erinnerte sich eines Zitats:

Ist es nicht eine Pein,
zu sein im Paradies allein.

Er wollte nur noch nach Haus, aber die drei Monate waren noch nicht um. Energielos fristete er die Tage, mietete einen Töff, sobald er wieder etwas Elan hatte. Jetzt waren die drei Monate um, er ging auf den Flughafen, buchte den nächstmöglichen Flug, übernachtete dort und konnte endlich heimkehren. Die Reise war zur Katastrophe geworden. Aber es wurde noch schlimmer, seine Freundin hatte jetzt einen andern, er soff ab. Eine Woche lang betrank er sich, es war so schlimm, dass sich die Haut an den Hände abschälte. Allmählich dämmerte ihm, dass es so nicht weiter gehen konnte.

Das war der Zeitpunkt, in der Männergruppe Halt zu suchen, ja gar eine Therapie zu beginnen. Er erzählte wie er sich das früher nie hätte vorstellen können. Jetzt komme ihm seine frühere Einstellung so vor, als wäre er am Ertrinken, jemand werfe ihm einen Plastikring zu und er rufe „Plastik, nein Danke“.

Er überredete seinen Arzt gar ihm Antabus-Tabletten zu verschreiben. Der hatte anscheinend keine Ahnung von Sucht, denn er verniedlichte das Problem, gab das Rezept letztlich doch. Es begann ein neues Spiel; wie lang wirken die Tabletten, bis ——. Die Psycho-Therapie nützte auch nichts, oder sie wiederholte sich so lange in ähnlichen Themen, bis der Freund sich verabschiedete indem er ankündete, er käme erst dann wieder, wenn er etwas Positives zu melden hätte. Er glaubte nicht mehr, dass er von der Sucht loskäme.

Doch eines Tages, es war nach seinem Geburtstag wurde er krank. Fieber, starke Kopfschmerzen plagten ihn. Erst wollte er heldenhaft keine Medikamente nehmen, als das Stechen im Gehirn zu schmerzhaft und die Schlaflosigkeit zu lang wurde, nahm er eine Tablette. Sie wirkte – die Schmerzen verschwanden. Welch Staunen – er hatte drei Tage ohne Alkohol gelebt, überlebt. Jetzt nahm er sich vor, gleich so weiter zu fahren. Noch ein bisschen gesund Essen und sich selber beobachten. Eigentlich glaubte er nicht an seine Heilung.

Wie oft hatte er sich schon vorgenommen, aufzuhören! Wie oft war er wieder und wieder umgefallen. Als er nach einem Monat noch immer keines Alkohols bedurfte, wollte er sich testen. Er kaufte eine Flasche Wein, setzte sich abends in den Garten, machte ein Feuer und leerte die Flasche. Nichts besonderes passierte.

Früher war er immer erlöst worden von Kummer, Pein, Sorgen und Schlaflosigkeit. Es konnte nichts passieren, diese Probleme hatte er nicht mehr. Am andern Morgen hatte er einen Kopf wie ein Stein, aber er wusste, das ist vorüber. Er war geheilt, ihm schien es ein Wunder.

Als ihn eine Woche später jemand fragte, ob er auch nicht mehr Rauche, merkte er es erst selber. Ja ein Wunder. Und er findet seither die Kampagne der Antialkoholiker „Einmal Alkoholiker – immer Alkoholiker“ daneben, weil sie Hoffnungslosigkeit suggeriert. Er hatte es anders erlebt.

S. Stone, 2010