Die wundersame Geschichte einer Auflösung
Ein nebliger Herbsttag war es, vor 55 Jahren, mit Herrn Lehrer Wasser. Auf einer Herbstwanderung marschierten wir durch den Nebel dem „Belchen“ zu, dem höchste Berg dieser Jurakette. Das letzte Wegstück war von Sappeuren der Armee gebaut worden. Ebenso die steilen Treppen mit Geländer, die auf eine Felskuppe führen.
Plötzlich waren wir über dem Nebel. Das ganze Mittelland lag im Meer, erst in weiter Ferne sah man die Alpen herausragen. Wir waren knapp über dem Ufer des Meeres. Unsere Felskuppe und der danebenliegende „Gupf“ sind die höchsten Punkte der Bergkette.
Sie ragten wie Inseln aus dem Nebel heraus. Doch es war kein Nebel, sondern Wasser, das gleich einem tosenden Niagara-Fall auf der anderen Seite der Bergkette hinunterfiel – ins Nichts und lautlos. Denn da war Sonnenschein und der Wasserfall löste sich auf im schönen Grün des Basellands. Ich hätte nie gedacht, dass mich ein Naturphänomen so beeindrucken könnte; als Bub und so lange noch.
Das erzählte ich meiner Freundin Belga, als wir – wieder dreissig Jahre später – dem „Belchen“ zu wanderten. Ich fühlte mich in jene Zeit zurückversetzt, als wir zuoberst standen und die Aussicht genossen. Doch was ereignete sich, als wir hinunter stiegen? Genau der Lehrer Wasser, begleitet von seinem Sohn in Leutnantuniform und dessen Frau, begannen die Treppen hoch zu steigen.
Ich schaute ihm entgegen, schaute ihn an, er achtete auf den Weg, ich war wie paralysiert, denn ich sagte nichts, ging an ihm vorüber und stieg weiter die Felsen hinunter. Unsere Gesichter waren sicher weniger als eine Armlänge aneinander vorbei gezogen. Ich regte mich furchtbar auf, berichtete meiner Freundin, was passiert war, sie ermunterte mich, zu warten bis der Lehrer wieder käme oder nochmals hinauf zu steigen.
Ich zögerte, war erregt, überlegte, warum ich so blockiert sei, ob es mit der Uniform zu tun habe oder was. Jedoch – die Paralyse löste sich nicht. Minuten nicht, Stunden nicht. Auf dem Heimweg redete ich immer wieder davon. Den ganzen Tag lang konnte ich es nicht begreifen. Jahre lang hatte ich ein mulmiges Gefühl, wenn die Szenen „Nebelmeer mit Staunen“ und „Begegnung in Blockade“ an mir vorüber zogen, denn gerade diesen Lehrer hatte ich immer am meisten geschätzt.
Ein Dutzend Jahre später, schenkten mir Animone und Simita, zwei Frauen, die ich Saxophon spielen lehrte, als Anerkennung „Ein Tag mit mir“. Sie entführten mich auf den „Weissenstein“, ebenso ein Ausflugsziel der Jurakette. Wir sassen auf der Hotel-Terrasse, schauten über das Mittelland und ich erzählte wieder die Geschichte mit dem Naturwunder und der unverständlichen Blockade. Die beiden Frauen sassen mir gegenüber. Als ich zum Schluss kam, schaute ich über ihre Gesichter hinweg und entdeckte zwei Tische weiter die Hauptperson der Erzählung: Lehrer Wasser.
Ich erhob mich spontan, eilte auf den Tisch zu, wir begrüssten uns, ich erklärte, wer ich sei, er erinnerte sich und ich erzählte wieder. Auch er wunderte sich, dass ich damals nicht fähig war, die Distanz zu überwinden. Aber jetzt war es geschehen, es war eine herzliche, wundersame und erlösende Begegnung – kein Nebel mehr.