Schon seit über 30 Jahren ist in Fachkreisen bekannt, dass bestimmte chemische Stoffe in Lebewesen Veränderungen des Erbgutes (Mutationen) bewirken. Gerade in den letzten Jahrzehnten ist aber die Produktion und Verwendung synthetischer Stoffe, die genau diese Mutationen bewirken, enorm gestiegen.

Das kann eine ernsthafte Gefährdung nicht nur des Menschen, sondern des ganzen Ökosystems Erde bedeuten und ein Gleichgewicht, das in jahrmillionenlangem Entwicklungsprozess entstanden ist, gefährden. Der Naturwissenschafter Pierre Mollet stellt diese Entwicklung hier dar, weist auf Lücken in den behördlichen Verordnungen hin und stellt auch einen Vorschlag zur Diskussion, wie diese beseitigt werden könnten.

Die Entwicklung (Evolution) vollzog sich vom Einfachen zum Vielfachen, vom Einheitlichen zum Vielfältigen. Aus wenigen, fast gleichartigen Lebewesen entwickelten sich im Laufe der Evolution eine Vielzahl verschiedenster Organismenarten, die miteinander im Gleichgewicht leben.

Durch fortdauerndes Abstimmen ihrer Lebensweise auf ihre Umwelt, bleibt das Gleichgewicht gewahrt. Fest ist es allerdings nicht. Vielmehr ist es ein dauerndes Wechselspiel zwischen zwei entgegen gesetzten Kräften: dem Auftreten von Erbänderungen (Mutationen) einerseits und dem Ausmerzen von lebensuntüchtiger Lebewesen (Selektion) andrerseits.

Gefahr für das Gleichgewicht

Heute laufen wir Gefahr, dieses Gleichgewicht durch masslose Industrialisierung und Technisierung empfindlich zu stören. Einerseits wir durch die Zunahme von Giftstoffen die Selektion in kurzer Zeit drastisch verstärkt. Andrerseits nimmt die Zahl der Mutationen ebenfalls zu, denn unter den Chemikalien sind auch solche mit erbschädigender Wirkung zu finden, z.B. bestimmte Medikamente, Pflanzenschutzmittel, Farbstoffe, Kunststoffe und Haarfärbemittel.

Nun müssen wir bedenken, dass unter tausend Erbänderungen nur selten eine positive (deren Träger lebenstüchtig sind) ausgelöst wird. So können wir verstehen, dass es immense Zeit dauert, bis unsere vielfältige Organismenwelt entstanden war, in kleinsten Entwicklungsschritten und ununterbrochen ein neues Gleichgewicht findend. Wir können aber auch erkennen, welche Folgen die Störung des natürlichen Fliessgleichgewichts haben werden.

Geschwindigkeit stört Stabilität

Wenn die Zahl der Mutationen und die Stärke der Selektion gleichzeitig in gleichem Mass erhöht werden, beschleunigt sich die Entwicklung. Nun weiss aber jeder Autofahrer, dass erhöhte Geschwindigkeit abnehmende Stabilität bedeutet. Das gleiche können wir in der Natur beobachten: die Stabilität des Ökosystems Erde nimmt ab, was an der Verringerung der Zahl der Organismenarten (Tierarten sterben z.B. aus) zu erkennen ist. Das widerspiegelt die alte Erkenntnis der Ökologen, dass ein Ökosystem umso labiler ist, je weniger Faktoren das Gleichgewicht bestimmen.

An Beispielen hierzu fehlt es nicht: Monokulturen, sterbende Gewässer und andere gestörte Biotope. Diese Art der Wirkung ist überall dort zu erkennen, wo Mutation und Selektion nicht weiteren Einflüssen unterstehen: bei Pflanzen und Tieren. Die Störung der Evolution ist gleich einem Rückschritt vom Vielfachen zum Einfachen, vom Vielfältigen zum Einheitlichen. Der Mensch aber ist ein Produkt der Vielfalt nicht der Einfalt.

Mensch: künstliche Selektionsverminderung

Zwar wird auch beim Menschen die Zahl der Mutationen erhöht, aber es erfolgt nicht gleichzeitig die natürliche Selektion. Sie wird vielmehr durch die moderne Medizin mittels raffinierter Techniken und Medikamente verringert. Immer mehr Träger von Erbkrankheiten oder Erbeigenschaften, die in unserer Umwelt eigentlich selektioniert würden, bleiben am Leben und vererben diese Eigenschaften weiter.

Wohlverstanden, die positiven Seiten der Medizin seien anerkannt. Besser jedoch ist es, das Entstehen von Erbschäden zu verhindern. Solange aber die Zahl der Giftstoffe und die Unterdrückung der primären Folgen durch die Medizin zunehmen, bedeutet dies beim Menschen, dass das Gleichgewicht der Evolution beim Menschen verschoben und somit ihre Richtung verändert wird. Das ist schon heute an einer Zunahme der geistig und/oder körperlich Geschädigten zu erkennen.

Foto Jonny Kennedy

Foto Jonny Kennedy

Wer übernimmt die Verantwortung?

Sowohl bei Pflanzen und Tieren als auch beim Menschen wird das Gleichgewicht der Evolution durch die unkontrollierte Zunahme der synthetischen Stoffe erheblich gestört. Die Natur hilft sich nach ihren eigenen Gesetzen. Das bedeutet für den Menschen in jedem Fall ein erhöhtes Risiko seiner Existenz, aber auch des Fortbestandes des Ökosystems Erde. Und wer wagt es, die Verantwortung dafür zu übernehmen? Wohl gibt es immer wieder Leute, die versichern: „Ich übernehme die volle Verantwortung.“ Aber was heisst das? Tragen sie die Folgen? Wer trägt die Folgen des Medikaments Contergan, das bei hunderten von Kindern Missbildungen hervorrief? Wer trägt die Folgen von Seveso?

Verschiedene Wirkungen von Giften

Chemische Stoffe, radioaktive Substanzen oder Strahlen können zwei Arten von schädlichen Wirkungen haben. Entweder wirken sie direkt auf den Stoffwechsel und reduzieren die Lebensfähigkeit, bedeuten gar Tod, oder sie wirken auf die Erbmasse eines Lebewesens. Während im ersten Fall das Leben des betroffenen Lebewesens direkt bedroht ist, sind es im zweiten Fall erst dessen Nachkommen.

Die direkten Schäden unterscheiden sich zudem je nach Ort und Zeit der Entstehung: Wirkung auf den Stoffwechsel führt zu Vergiftungserscheinungen, Wirkung auf sich entwickelnde Lebewesen führt zu Missbildungen (Teratogenität) und Wirkung auf bestimmte Organe führt zu Krebs (Kanzerogenität). In letzter Zeit häufen sich sogar Befunde, dass die letzten beiden Arten von Schäden auch auf Änderungen von Erbanlagen beruhen, jedoch nicht in Geschlechtszellen, sondern in Körperzellen.

Foto Dioxin Vergiftung befor und after

Foto Dioxion Vergiftung befor und after

Gefahr der Giftwirkung erkannt

Die direkt Lebens gefährdenden Wirkungen sind schon seit längerer Zeit erkannt worden. In vielen Staaten, so auch in der Schweiz bestehen deshalb Vorschriften, welche eine Abklärung der Giftwirkung von neuen Produkten verlangen. Dass die Realisierung der Vorschriften teilweise erst nach eigentlichen Katastrophen erfolgte, ist eine bittere Wahrheit.

So z.B. die teratogene Wirkung des Contergans oder die Cadmiumvergiftungen in Japan. Wird heute eine direkt schädliche Wirkung eines Produkts festgestellt, so wird dieses Produkt entweder verboten oder es werden Sicherheitsbestimmungen erlassen. Auch kann die Verwendung stark eingeschränkt werden wie etwa im Fall der Medikamente. Allerdings sind je nach Substanz immer wieder andere Behörden für deren Bewilligung zuständig und es ist nirgends garantiert, dass Sicherheitsbestimmungen und Einschränkungen der Verwendung auch eingehalten und kontrolliert werden.

Immerhin ersieht man daraus die Absicht, die Stärke der Selektion möglichst niedrig, d.h. in natürlichen Grenzen, zu halten. Im Gegensatz dazu wird dem Problem der erbschädigenden Wirkung von Chemikalien zu wenig Beachtung geschenkt.

Gefahren von Erbänderungen zu wenig beachtet

Allerdings haben Wissenschaftler vielerorts diese Probleme erkannt und aus diesen Gründen in den letzten Jahren in verschiedensten Kontinenten Organisationen gegründet, welche sich ausschliesslich mit den Gefahren der mutagenen Wirkung von Chemikalien und Strahlen befassen: Die Environmental Mutagen Societies (EMS). Neben der Erforschung der Entstehung von Mutationen besteht eines der Ziele dieser Organisation darin, bei den massgebenden Behörden zu erreichen, dass neue Chemikalien nicht nur auf direkt Lebens gefährdende, sondern auch auf ihre erbschädigende Wirkung getestet werden.

Erst wenn diese Prüfungen an verschiedenen Testorganismen ergeben, dass für den Menschen keine Gefahr der Mutationsauslösung besteht, soll die Produktion und Verwendung eines neuen Produkts erlaubt werden. In verschiedenen Ländern haben die Bemühungen der EMS zu konkreten Ergebnissen geführt.

In Japan z.B. wurde eine Verordnung erlassen, welche die Prüfung von neuen Chemikalien auf ihre mutagene Wirkung in verschiedenen Testsystemen für obligatorisch erklärt. Auch in den USA, Kanada, Grossbritanien und andern europäischen Ländern sind solche Vorschriften in Vorbereitung. Im Gegensatz dazu sind in der Schweiz von den Behörden bis heute noch keine konkreten Schritte in dieser Richtung unternommen worden.

In der Schweiz wird keine Kontrolle ausgeübt

Dies obwohl Unfälle mit Chemikalien, die sich in Tierversuchen als erbschädigend erwiesen hatten, schon vor der Katastrophe von Seveso Anlass genug gegeben hätte. So war z.B. in der NZZ (Nr. 128, 3. Dez. 1975, S. 49) nach den Unfällen bei der Herstellung von PVC zu lesen:

„Der Umstand, dass die zulässigen Arbeitsplatzkonzentrationen von Vinylchlorid trotz langjährigem gehäuftem Auftreten von schweren körperlichen Schäden nicht früher gesenkt wurde, ist unverzeihlich und skandalös.“

Und ebenso ist im selben Bericht festgehalten „wie wenig sich die Bevölkerung auf die Selbstkontrolle potenziell gefährlicher Industriezweige verlassen kann.“ Trotzdem sind die schweizerischen Behörden im Begriffe, sich in der Frage der erbschädigenden Wirkung von Chemikalien auf die Selbstkontrolle dieser Industriezweige zu verlassen.

Dies ist anhand folgender Tatsachen ersichtlich:
Im Oktober 1974 erhielt das Eidgenössische Amt für Umweltschutz einen Brief, in dem es aufgefordert wurde, darzulegen, welche Massnahmen getroffen würden, um der Gefahr erbschädigender Wirkung von bestimmten Chemikalien zu begegnen. In der Antwort wurde darauf hingewiesen, dass „das Kriterium der Mutagenität bei der Einteilung der Stoffe in die verschiedenen Giftklassen berücksichtigt werde“. Es wurde auch bemerkt, die für solche Fragen zuständige Stelle sei das Eidg. Gesundheitsamt. Daraufhin wurde das Gesundheitsamt aufgefordert, die entsprechenden Gesetze, Verordnungen oder Vorschriften bekannt zu geben.

Nach wiederholter Aufforderung kam im Mai 1975 endlich der Bescheid:

„Der grosse Arbeitsanfall in der Giftsektion zwingt uns, auch die wichtigsten Angelegenheiten in der Reihenfolge ihres Eingangs zu behandeln… Wir werden sobald wie möglich auf diese Angelegenheit zurückkommen.“

Eine definitive Antwort steht bis heute aus. Dass gar keine entsprechenden Vorschriften bestehen, bestätigte sich an einem Treffen von Wissenschaftern, die sich mit den Fragen der Mutagenitätsprüfung befassen. Zu dieser Tagung lud die Eidg. Forschungsanstalt Wädenswil Vertreter des Eidg. Gesundheitsamts, der Hochschulen und der chemischen Industrie ein.

Obligatorische Überprüfung unerwünscht?

Es zeigte sich an diesem Treffen folgende Situation: Obwohl bis heute keinerlei Vorschriften bestehen, wird in der Industrie, an Hochschulen und Eidg. Forschungsanstalten auf diesem Gebiet geforscht. Während in der Industrie etwa 20 Leute mit solchen Studien beschäftigt sind, befassen sich an den anderen Institutionen zurzeit lediglich etwa 5 Personen mit der Mutagenitätsprüfung. Das bedeutet, dass die grösseren chemischen Fabriken knapp in der Lage wären, ihre neu entwickelten Stoffe auf erbschädigende Wirkung zu prüfen.

Die Behörden und Hochschulen dagegen wären nicht in der Lage, die Resultate der Industrie zu prüfen oder gar Stoffe, die schon verwendet werden, auf ihre erbschädigende Wirkung zu testen. Zudem kam an diesem Treffen, das Anfang 1976 stattfand, zum Ausdruck, dass für die meisten der Anwesenden eine Diskussion dieser Probleme in der Öffentlichkeit unerwünscht ist.

Und letztlich wurde von Behördenseite auch bekannt gegeben, dass eine obligatorische Mutagenitätsprüfung im jetzigen Zeitpunkt nicht als nötig erachtet werde. Das wurde natürlich von den Chemievertretern, aber leider auch von den meisten Hochschulvertretern akzeptiert.

Dabei sind die Begründungen zum letztgenannten Punkt bemerkenswert: Erstens seien bis jetzt keine geeigneten Mutagenitäts-Prüfverfahren bekannt. In Japan sind zwar bereits solche Tests vorgeschrieben und in andern Ländern werden ähnliche Reglemente wie bereits erwähnt vorbereitet. Aber eben – in Japan z.B. gab es bereits Unfälle mit erbschädigenden Chemikalien (z.B. mit Cadmium, einem Schwermetall).

Zweitens sei bis heute der Beweis nie erbracht worden, dass Chemikalien bei Menschen je Ursache von Erbschäden gewesen seien. Gerade neueste Beispiele aus der Praxis wurden dabei als zu wenig beweiskräftig unter den Tisch gefegt. Immerhin konnten aber amerikanische Forscher nachweisen, dass Frauen von Arbeitern, die in einer PVC-Fabrik dem Vinylchlorid ausgesetzt waren, mehr Aborte aufwiesen, als eine Kontrollgruppe.

Wenn von Behörden- und Industrievertretern schon Beweise verlangt werden, dass erbschädigende Substanzen nicht nur in Pflanzen und Tieren, sondern auch im Menschen schädliche Effekte zeigen können, so würde man doch erwarten, dass kleinste derartige Anzeichen Anlass gäben, entsprechende Massnahmen zu treffen.

Es ist deshalb mit allem Nachdruck zu verlangen, dass vom Eidg. Gesundheitsamt den Problemen der Erbschädigenden Wirkung von Chemikalien die nötige Beachtung geschenkt und unverzüglich Mutagenitätsprüfungen als obligatorisch erklärt werden.

Dabei können die Behörden auf den zum Teil erwähnten, bestehenden Vorschriften aufbauen. Laut Bulletin des Gesundheitsamtes (Juni 1976) ist immerhin geplant, eine entsprechende Arbeitsgruppe zu bilden. Damit ist die Hoffnung erfüllt, dass die Dinge doch noch ins Rollen kommen.

Wie die Lösung aussehen könnte

Das Eidg. Gesundheitsamt setzt eine Gruppe von Wissenschaftern der Hochschulen, Forschungsanstalten und des Gesundheitsamtes ein. Sie hat die Aufgabe, innerhalb von 4 Monaten alle bestehenden und in Vorbereitung begriffenen Vorschriften anderer Länder zu prüfen. Daraus soll diese Gruppe die beste Lösung heraussuchen oder allenfalls eine eigene Regelung vorschlagen.

Eins zweite Gruppe, bestehend aus Vertretern der Hochschulen, Forschungsanstalten und der Industrie, entwickelt parallel dazu und bis zu drei Monate nach Abschluss der Arbeit der ersten Gruppe die nötigen detaillierten Testvorschriften. Im Anschluss daran unterbreitet die erste Gruppe dem Gesundheitsamt eine umfassende Regelung der Mutagenitätsprüfung. Dabei ist darauf zu achten, dass sie genügend flexibel ist, damit auch zukünftige Entwicklungen auf diesem Gebiet laufend berücksichtigt werden können.

Der Vorschlag wird von den Behörden begutachtet und einen Monat später allen Interessenten zu Vernehmlassung zugestellt. Wieder einen Monat danach treffen sich alle Beteiligten sowie Vertreter von Umweltschutzorganisationen und diskutieren die getroffene Lösung. Ein Jahr nach Beginn der Arbeit unterbreitet das Gesundheitsamt eine revidierte Fassung der neuen Verordnung. In derselben Zeitspanne sollte vom Gesundheitsamt die Strahlenschutz-Verordnung so geändert werde, dass sie auch für den Umgang mit mutagenen Chemikalien ihre Gültigkeit hätte.

Auf diese Weise könnte die Mutagenitätsprüfung von Chemikalien geregelt und damit ein erster Schritt unternommen werden, die Gefahr der Zunahme von Erbschäden abzuwenden.

Belasten bestimmte chemische Stoffe die Gesundheit späterer Generationen?
Pierre Mollet, 1977