Vorschläge für die Lehrerinnenbildung

Als Erwachsene treten die Studierenden, die alle mindestens achtzehn Jahre alt sind, ins Neue Seminar ein. Aus der Schülerin wird die Lehrerin. Und das wird allen gleich zu Beginn bewusst. Bei der Einschreibung mussten sie sich ja über Ihre Vorbildung im klaren sein, ihre Fähigkeiten einschätzen und einen Studienplan erstellen. Sie werden nämlich in verschiedenen Bereichen wie Hauswirtschaft, Textiles Werken oder Kindergarten aber auch zusätzlichen wie Werken, Fremdsprachen usw. abschliessen können.

Die Wahl wird ihnen erleichtert durch Beratende (Tutorinnen), die sie durch das Studium begleiten. Dass sie nicht nur Spezialistinnen werden, merken sie auch bald, denn es gibt keinen Klassenbetrieb. Den haben sie nach neun bis zwölf Schuljahren hinter sich. Vielmehr besuchen sie beispielsweise Allgemeine Didaktik, Turnen oder Gegenwartskunde mit Kolleginnen, die nicht gleiche Patente erwerben werden. Fächer, die sie an der Diplommittelschule oder anderswo abgeschlossen haben, brauchen sie nicht mehr zu belegen.

Oder es existieren Stützkurse und Praktika für Bereiche, die in ihrer bisherigen Ausbildung zu kurz kamen. Dieser Einstieg unterscheidet sich vom heutigen Schulbetrieb am Seminar, er führt zu Erwachsenenbildung mit universitärem Charakter. (Im übrigen gilt die weibliche Form für beide Geschlechter.)

Situation heute

Am Aargauischen Seminar für Hauswirtschaft, Textiles Werken und Kindergarten schliessen die Studierenden nach drei Jahren in einem der drei genannten Bereiche ab. Sie haben neun Jahre Grundschule (Primar und Sek./Bez.) hinter sich und meistens zwei Jahre Diplommittelschule (DMS) oder eine entsprechende Ausbildung. Sie schliessen also ihre Weiterbildung zur Fachlehrerin in der Regel fünf Jahre nach der Grundschule ab.

Demgegenüber dauert die Weiterbildung für Primarlehrerinnen im ganzen sechs Jahre (4 Jahre Mittelschule plus 2 Jahre Höhere Pädagogische Lehranstalt HPL). Diese sind dann befähigt neben Lesen, Schreiben und Rechnen eine ganze Palette von weiteren Fächern zu unterrichten. Aufgrund dieses Vergleichs wird es offensichtlich und ist einleuchtend, dass eine Angleichung der verschiedenen Ausbildungen anzustreben ist. Falls die Primarlehrerinnenbildung so bestehen bleibt, liegt es nahe, die Ausbildung am Seminar auf zwei Jahre zu kürzen und dafür jene nach der Grundschule auf drei Jahre auszubauen.

Dies soll an der DMS oder in Berufslehren mit ähnlichem Abschlussniveau erfolgen. Vor dem Seminareintritt wäre dann ein grosser Teil der Allgemeinbildung bereits abgeschlossen oder könnte allenfalls am Neuen Seminar in Stützkursen nachgeholt werden. Ebenso würden Leute ohne Praxiserfahrung ihr Manko vor oder während der Ausbildung nachholen.

Art der Ausbildung

Wie eingangs skizziert, überwiegt der erwachsenenbildnerische und – vor allem organisatorisch – der universitäre Aspekt. Besondere Bedeutung hat die Umsetzung der Theorie in die Praxis. In speziellen Seminarien, Lehrübungen, Workshops, und Blockpraktika wird gelernt Wissen, Ideen, Erlebnisse und Erfahrungen zu verarbeiten und anzuwenden. Dazu gehören z.B. auch gruppendynamische Seminare, damit eigene und fremde Entwicklungschritte erfahren werden können.

Es wird ein Ausgleich geschaffen zwischen Intellekt, Theorie und Prozess, Praxis. Auf die zentrale Funktion des Neuen Seminars wird im Abschnitt über die Anforderungen an die Lehrpersonen nochmals eingegangen. Das zu Beginn des Studiums forcierte Tutorensystem hilft, die Selbsteinschätzung zu korrigieren (zu stärken oder zu relativieren). Eine Vorbereitung auf die neue Situation würde schon an der DMS oder in einem Vorkurs eingeleitet.

Im Neuen Seminar gibt es keine Absenzenordnung wie bisher, denn die Studierenden handeln selbstverantwortlich. Sollte diese Fähigkeit gering sein, wird sie gefördert oder in speziellen Kursen erlernt. Und auch den Seminarlehrerinnen ist eines selbstverständlich: Der Unterricht ist so gut, wie er besucht wird. Die Hektik des Stundentakts wird durch verlängerte Pausen und Blockunterricht vermindert.

Neu kann nicht nur in einem Gebiet ein Patent erlangt werden, sondern in mehreren. Beispielsweise Kindergarten und Werken und Deutsch für Ausländer oder Textiles Werken und Werken und Jugend-und-Sport Leiter oder gar Hauswirtschaft und Textiles Werken. Es gäbe eine ganze Palette von verschiedenen Möglichkeiten, neu auch Schultheater, Bewegungsschule oder Werken inklusive textilem. Gemeinsam besuchte Fächer wie Sport, Musik, Sprachen, förderten das Zusammengehörigkeitsgefühl der zukünftigen Lehrpersonen.

All das bedingt auch einen mehr experimentellen Charakter des Unterrichts, das Innovative soll durch projektorientierten Unterricht, Team-Teaching, Workshops und Blockpraktika betont werden; dazu gehörte auch ein Studentinnenrat, der Kompetenzen hat und Verantwortung übernimmt.

Ganz Allgemein wird der Unterricht verschiedenen Bereichen zugeordnet (siehe Kasten). Je nach Patentziel, müssten dann die Studierenden in vorgegebenen Bereichen ein oder wahlweise mehrere Fächer mit einer Prüfung abschliessen. Das könnte in einem Bereich auch eine selbständige Patentarbeit sein. Die Ausbildung würde in der Regel zwei Jahre dauern, bei besonderen Umständen individuell auch länger. Nach der Ausbildung würden die Lehrerinnen in der ersten Zeit von Mentorinnen begleitet werden.

Beispiele von BereichenBeispiele zugehöriger Fächer
LehrerinnenbildungMethodik, Pädagogik, Didaktik, Soziologie usw.
AllgemeinwissenNaturwissenschaften, Medizin, Deutsch, Fremdsprachen, Gegenwartskunde, Geographie, Staatskunde usw.
FachwissenLehrerübungen, Praxis, Ernähungslehre, Materialkunde, Musikgeschichte usw.
BewegungTurnen, Sport, Rhythmik usw.
GestaltungWerken, Zeichnen, Textiles Werken, Darstellendes Spiel uws.
Musischer BereichSingen, Chor, Orchester, Instrumentalunterticht usw.

 

Eine der Konsequenzen sei hier angefügt: Dieses System würde verhindern, dass eine Ausbildung wegen zu kleiner Teilnehmerzahl nicht angeboten würde, wie es sich soeben in Brugg an der Abteilung für Hauswirtschaft abzeichnete. Da alle Studierenden viele Fächer gemeinsam besuchen, könnte für den Fachunterricht (z.B. Kochen) auch einmal eine Gruppe aus nur vier Personen bestehen.

Stellung des neuen Seminars

Nach alledem ist es klar, dass diese Lehrerinnenbildungsstätte eine Nachdiplomschule wie etwa die HPL oder eine Fachhochschule ist. Daraus leitet sich auch ihre Stellung im Verhältnis zu andern ab. Verglichen mit dem heutigen Seminar bedeutet das z.B. einen Ausbau in den Bereichen Medien, Naturwissenschaften/ Medizin und einen Umbau eines Teils der Schulzimmer in Gruppenräume, technisch ausgerüstete Studienräume, Fachstützpunkte etc.. Ein Studentinnenhaus mit Musikübungsräumen, Ateliers und Werkstätten im Dauerbetrieb darf natürlich nicht fehlen.

Die erforderlichen Qualifikationen für die Seminarlehrerinnen ergeben sich von selbst: Sie entsprechen mindestens jenen von Mittelschullehrerinnen. Für Spezialgebiete wie Materialkunde, Nahrungsmittellehre, Textilkunde usw wären entsprechende Abschlüsse in Chemie, Physik, Biologie oder Ernährungslehre erforderlich. Oder in Fächern der Lehrerinnenbildung z.B. wird ein Universitätsstudium beziehungsweise – und zwar als etwas Gleichwertiges – ein Abschluss an einer Erwachsenenbildungsschule verlangt.

Ebenso werden Berufsleute (z.B. Aerzte, Sozialarbeiter, Juristen, Künstler) im Unterricht eingesetzt, was den Praxisbezug herstellt. Eine besondere Stellung haben die Praxis- und Methodiklehrerinnen. Sie werden speziell auf ihre Rolle an der Nahtstelle zwischen Theorie und Praxis ausgebildet. So sind sie bestens vorbereitet auf ihre schwierige Situation als Lehrerin, Beraterin, Kollegin und Supervisorin. Die Stellung als Nachdiplomschule soll es den Lehrkräften auch erlauben, ihre speziellen Lehrgebiete in besonderen Kursen auszuschreiben. Dies förderte die Begeisterungsfähigkeit allseitig. In Sonderveranstaltungen (inkl. Ferienkursen) würde auch der Kontakt der Schule nach Aussen intensiviert.

In diesem Zusammenhang sei auch auf allfällige Bedenken seitens der jetzigen Seminarlehrerinnen eingegangen.

  1.  Wenn die Ausbildung an der DMS verlängert und am Neuen Seminar verkürzt wird, gibt es insgesamt nicht weniger Unterrichtsstunden.
  2. Wenn die Qualität der Ausbildung zunimmt, wertet dies das Berufsbild auf.
  3. Gut qualifizierte Lehrkräfte sind Gewähr für die Zukunft des Seminars.
  4. Unterqualifizierte Lehrerinnen mit besonderen Fähigkeiten sollen nach wie vor berufen werden können und (qualifizierte) Lehrerinnen, die sich jahrelanger Praxi nicht bewährten, düfen auch abberufen werden.
  5. Bei einer allfälligen Reduktion von Unterrichtsstunden, sollen diese anteilsmässig auf alle Lehrkräfte verteilt werden (Solidariät vor Status).
  6. Die am Neuen Seminar absolvierte Aussbildung soll jederzeit erweitert oder überführt werden können in jene zur Primarlehrerin.
  7. Das Neue Seminar soll Zusatzpatente für Primar- oder Oberstufenlehrerinnen und eine Ausbildung für Berufsleute ermöglichen.

Leitideen, Konsequenzen und Ausblick

  • Die Art der Ausbildung repräsentiert den Inhalt und prägt das Lehrerinnenbild.
  • Der Experimentalcharakter einer Bildungsstätte verhindert ein verstaubtes Image.
  • Die Innovationsfreudigkeit einer Schule garantiert ihr Fortbestehen.
  • Für eine zukunftsorientierte Ausbildung braucht es keine Detailpläne: Die VISION bestimmt die Entwicklungsfähigkeit einer Schule.
  • Der Aargau soll eine Universität für Bildungswissenschaft oder eine Hochschule für Gestaltung (d.h. Musik, Bewegung und Bildende Kunst) verwirklichen. Es wäre ein fälliger Beitrag zur Bildungspolitik, vielleicht gar zu einer gesamtschweizerischen und – gerade jetzt.

Pierre Mollet, 1993