Heiden
Die Atmosphäre an der Primarschule war geprägt durch Wettbewerb. Die Lehrer wurden beurteilt nach ihrer Fähigkeit, wie viele ihrer Schüler, die Aufnahmeprüfung an die Bezirksschule bestünden. Es war ein zeitraubender Wettbewerb für Schüler und Lehrer. Einer der Lehrer war anders: man nannte ihn „Papa Blanc“. Er war gütig, verständnisvoll und immer freundlich mit allen. In dieser Zeit hatten wir auch Religionsunterricht und Sonntagsschule. Da hörten wir von den Heiden.
Vorerst konnte ich mir darunter nichts vorstellen, doch lernte ich allmählich, dass dies nicht nur keine Christen seien, sondern Leute, die nicht an Gott glaubten. Leute, die unzivilisiert seien, vielleicht sogar Eingeborene aus Afrika oder andere Wilde. Jedenfalls rückten sie in meinen Gefühlen immer mehr zu den Bösen. Die Bösen, das waren die Verbrecher, die Räuber, die Verruchten.
Eines Tages hörte ich vor dem Migros einem Gespräch von Müttern zu. Unter anderem wurden auch die Lehrer und ihre Eigenarten besprochen. Letztlich kam die Rede auf „Papa Blanc“. Noch heute höre ich die fast flüsternde Stimme einer Mutter, die der andern zuraunte —- er sei ein Heide.
Das gab mir zu denken.
Christen
In die Sonntagsschule gingen wir, weil es uns gefiel einmal mehr Weihnachten feiern zu können. Und – eigentlich noch eher – weil wir ein Geschenk erhielten, wenn wir nie fehlten. So habe ich auch das kleine Neue Testament in guter Erinnerung, obwohl es danach jahrzehntelang unbenutzt herumlag. Echte Freude bereitete mir jedoch die Tasse mit Teller und echtem Goldrand. Jeden Tag las ich von neuem die goldenen Lettern:
Lobet den Herrn
Weniger gute Erinnerungen blieben mir vom Religionsunterricht.
Nach einem Lehrerwechsel waren wir natürlich gespannt, auf die erste Stunde. Der neue Religionslehrer, Herr Grandfour, begann mit einem Appell:
„Maja Blum?“ …“ja“
„Peter Durrer?“ …“da“
„Heinz Gubler“ …“hier“
„Erika Kurz?“ …“da“
usw.
„Moritz Kambly?“ …“…es kann sein, dass ich da bin.“
So tönte es aus den hinteren Bänken.
„Komm hier nach vorn und leg dich auf den Tisch.“
Der Rohrstock sauste nieder.
Später, bei einem Pfarrer, den ich von der Sonntagsschule her kannte, hatten wir nach einiger Zeit eine Probe über die Zehn Gebote. Es wird nicht abgeschrieben, sonst ! Wir erhielten Zettel und mussten die Gebote aufschreiben. Ich vergewisserte mich beim Nachbarn, ob er dasselbe schreibe. Plötzlich hörte ich rasche Schritte hinter mir, ich wurde am Kragen vom Stuhl gehoben, halb fliegend halb taumelnd, nach vorne gezerrt, dort mit dem Hinterkopf einige Male an die Wandtafel geschlagen und wieder irgendwie auf meinen Stuhl zurückbugsiert .
Ich war völlig benommen, wagte gerade zu überlegen, ob ich aufstehen und gehen solle, da wurde ich wieder hochgehoben, durch die Bankreihen geschleppt und nach dem Aufreissen der Tür, mit einem Tritt in den Hintern auf den Gang hinauskatapultiert. Weder vorher noch nachher hatte ich je solche Gewalt verspürt.
Auch vom letzten Pfarrer vor der Konfirmation, blieben mir Erinnerungen. Einmal sei er – Herr Pfarrer Mio – von Bern nach Zürich marschiert, nur weil er in Zürich etwas vergessen hätte. Und einmal plauderte er mit einer Mutter auf dem Bahnquai. Es war gerade ein neuer Pfarrer gewählt worden, ein junger, moderner. Mein Pfarrer meinte mit etwas gedämpfter Stimme, der sei gar nicht so fromm.
Christen und Heiden, das gab mir zu denken, viel zu denken und lange Zeit. Später, Jahre später, gab ich den Austritt. Danach besuchte uns das erste Mal ein Pfarrer zu Hause. Zu spät.